Asylpolitik anders denken

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Pour un chute du mur européen - banderole

Knapp zehn Jahre nach dem Zusammenbruch des europäischen Grenzregimes im Sommer 2015 steht die Asyl- und Migrationspolitik in der Schweiz und in Europa erneut an einem Wendepunkt. Während es Politiker:innen von Rechtsaussen bis weit in die Mitte hinein nach 2015 vor allem darum ging, die Kontrolle über die Aussengrenzen wiederzuerlangen, nehmen sie inzwischen unverblümt das Asylrecht selbst ins Visier. Diverse Vorstösse, die im Moment diskutiert werden, lassen daran keinen Zweifel mehr. Ob Asyl-Schnellverfahren an den EU-Aussengrenzen, Auslagerung von Asylverfahren in nicht-europäische Länder, Nichteintretensentscheide bei Einreise aus sicheren Drittstaaten oder strikte Obergrenzen für die Asylgewährung: Die vorgeschlagenen Massnahmen zielen im Kern darauf ab, mit dem Recht auf Asyl die letzte verbliebene Option auf ein Bleiberecht für Geflüchtete auszuhebeln. Die Angriffe auf das Asylrecht gehen so weit, dass selbst rechtsstaatliche Grundpfeiler wie die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschrechtskonvention als Ballast vergangener Zeiten dargestellt werden. In der Asyl- und Migrationspolitik zeigt sich wie unter einem Brennglas, dass die Grundprinzipien europäischer Demokratien aktuell massiv in Gefahr sind. 

 

Die Infragestellung des Asyls ist eine menschenverachtende Antwort auf die Tatsache, dass sich das Überqueren der europäischen Grenzen unter Wahrung geltender Rechtsnormen tatsächlich nicht verhindern lässt – höchstens lässt es sich erschweren, indem Schutzsuchende mangels legaler Alternativen auf lebensgefährliche Fluchtrouten gedrängt werden. Anstatt grenzüberschreitende Bewegungen jedoch als Realität des 21. Jahrhunderts anzuerkennen, klammert sich die Politik an den Irrglauben, sie nach Belieben lenken und steuern zu können. Nicht nur die asylpolitischen Hardliner:innen suggerieren, dass sich Migrant:innen einfach aufhalten, verschieben oder wieder zurückschicken liessen, als ginge es um Logistik und nicht um Menschenleben. Vergessen wird dabei, dass es nicht die Staaten oder die Politik sind, die die Migrationsentscheidungen treffen. Vielmehr sind es die Menschen selbst, die von jeher Wege gesucht haben, um Not, Leid und Verfolgung zu entkommen, wenn auch nicht unter selbstgewählten Umständen. 

 

Wie stark das Asylrecht inzwischen auch in der Schweiz unter Druck geraten ist, merkt man seinen Verteidiger:innen bisweilen noch nicht an. Gefangen im Korsett der Schengen-/Dublin-Assoziierung berufen sich linke Politiker:innen und Hilfswerkvertreter:innen vor allem auf die humanitäre Tradition der Schweiz oder verweisen auf die Völkerrechtswidrigkeit der Vorschläge. So wichtig diese Einwände sind, so verkennen sie doch, dass sowohl die humanitären Appelle als auch die rechtlichen Argumente in der aktuellen Konjunktur rechter Asylpolitiken kaum noch Gehör finden. Der selektive Charakter des Flüchtlingsschutzes macht es den Rechten zudem leicht, «echte Flüchtlinge» gegen sogenannte «Wirtschaftsmigranten» auszuspielen. Und eine sich allein auf internationales Recht berufende Argumentation übersieht, dass auch das Asylrecht nicht in Stein gemeisselt ist, sondern immer wieder neu ausgehandelt und verteidigt werden muss – wie zuletzt die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf erschreckende Weise gezeigt hat.

 

In ihrem Kampf gegen das Asylrecht scheinen die Gegner:innen des Asyls die Funktionsweise von Grenzregimen hingegen überaus gut studiert zu haben. Denn wenn sie zum Beispiel skandalisieren, dass es an den EU-Aussengrenzen eine Quasi-Personenfreizügigkeit für Geflüchtete gebe, beschönigen sie zwar auf unerträgliche Art und Weise die gewaltvollen Erfahrungen der Flucht. Sie weisen aber auch nicht zu Unrecht darauf hin, dass Grenzen nach geltendem Recht tatsächlich nicht einfach geschlossen werden können. Um den daraus folgenden Forderungen etwas entgegenzusetzen, reicht es nicht aus, nur das Asylrecht zu verteidigen. Vielmehr bedarf es dringender denn je einer schlagkräftigen Perspektive, die die Migrationspolitik wieder als ein Feld politischer Auseinandersetzungen auffasst, in denen um Teilhabe an einer gemeinsamen Zukunft gerungen wird. Dabei steht nicht weniger auf dem Spiel als die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen. In einer Gesellschaft des nationalen Chauvinismus und Rassismus, in der Geflüchtete für alle Probleme dieses Landes verantwortlich gemacht werden? Oder in einer offenen Gesellschaft der Vielen, die ihre Zukunftsentwürfe nicht an Abschottung und Entrechtung ausrichtet, sondern an der (Bewegungs-)Freiheit aller, die hier sind und aller, die noch kommen werden? 

 

Solidarité sans frontières setzt sich seit jeher für einen politischen Horizont ein, der aus der Gleichheit und den Grundrechten aller Menschen auch die gleichen Rechte auf Bewegungsfreiheit ableitet und diese politisch zu erkämpfen versucht. Sei es im Kleinen, wenn es um die unmenschlichen Dublin-Ausschaffungen nach Kroatien oder um die gefährdete Asylgewährung für afghanische Frauen geht, oder sei es langfristig, wenn es das Ziel sein sollte, eine politische Perspektive jenseits des selektiven Flüchtlingsschutzes zu entwickeln. In beiden Fällen ist es dringender denn je nötig, Flucht und Migration als umkämpftes politisches Terrain anzusehen, das unter keinen Umständen den extremen Rechten überlassen werden darf.