Am Tag der Bundesratswahl schildert die NZZ ausführlich die aktuelle Situation im Asylbereich. Ohne das Wort Notstand zu nennen, diagnostiziert sie einen solchen: Seit dem zweiten Weltkrieg seien noch nie soviele Geflüchtete in die Schweiz gekommen wie jetzt; gemäss SEM seien 133'000 Personen Ende Oktober im Asylprozess gewesen. Dass davon die Hälfte Ukrainer:innen mit Schutzstatus S sind, wird nur am Rand erwähnt. Es ist jedoch eine wichtige Information: 2022 kamen fast 75.000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz, um Schutz zu suchen. Dank schneller Entscheidungen und der effektiven Umsetzung eines parallelen Asylsystems konnten diese Menschen Schutz erhalten, in den Städten untergebracht werden und hatten das sofortige Recht auf Arbeit und Ausbildung. Ein klarer Beweis dafür, dass eine würdige Aufnahme keine Frage der Anzahl der Ankömmlinge ist, sondern des politischen Willens.
Der Artikel setzt seine Aufzählung fort: Die Verfahren würden wieder länger dauern, was zu einem Pendenzenberg führe, und sogar Familien mit Kindern müssten in unterirdischen Zivilschutzanlagen leben. Es ist wichtig zu betonen, dass Tausende der 133.000 Personen, die sich noch im Asylverfahren befinden, dies aufgrund von Verzögerungen seitens der Verwaltung sind. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hält das 2016 verabschiedete neue Asylsystem, das die Verfahren beschleunigen sollte, nicht, was es versprach. Die Verfahren dauern länger, weil die Menschen von ihren Rechten Gebrauch machen. Berufungen und Überprüfungsanträge, weil die ersten Entscheidungen zu schnell getroffen werden, bremsen das System. Zweitens ist die Entscheidung, den Personalbestand in den Jahren 2020 und 2021 aufgrund des Rückgangs der Einreisezahlen aufgrund der Pandemiesituation zu reduzieren, eine Fehleinschätzung. Ab 2022 haben sich die Asylzahlen wieder normalisiert. Deshalb verzögern sich nun die Verfahren.
Italien nehme keine Geflüchtete mehr zurück, viele unbegleitete Minderjährige seien in die Schweiz gekommen, Rückführungen von Abgewiesenen seien schwierig und die neue Praxis des SEM, Afghan:innen Asyl zu gewähren und ihnen damit das Recht auf Familiennachzug einzuräumen, habe seit Frühjahr schon zu 700 neuen Gesuchen geführt. Auch hier eine voreilige Behauptung: Die 700 neuen Anträge stammen überwiegend von Frauen, die sich bereits in der Schweiz aufhalten und die Umwandlung ihrer F- in eine B-Bewilligung beantragen. Diese Verbesserung ist sinnvoll: Sie ermöglicht eine bessere Integration in den Arbeitsmarkt und gewährleistet, dass die Familieneinheit respektiert wird. Darüber hinaus ist diese neue Praxis, die von der bürgerlichen Rechten so sehr kritisiert wird, nur die Anwendung des internationalen Rechts und insbesondere der Genfer Flüchtlingskonvention: Afghanische Frauen werden in Afghanistan aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt – darum sind sie als Flüchtlinge anzuerkennen.
Vor diesem Hintergrund sei nicht wie eh die SVP aktiv, sondern auch die FDP: «Jetzt könnte der Wind drehen». In einer Sondersession wolle der Nationalrat am 19./20.12.23 die neue Afghan:innen-Praxis rückgängig machen und die Motionen von FdP-Ständerat Damian Müller diskutieren. In einem Pilotprojekt solle geprüft werden, ob abgewiesene Eritrea-Geflüchtete in ein Drittland wie etwa Rwanda abgeschoben werden können und der Bundesrat solle die EU dazu bringen, dass Italien seiner Rückübernahmepflicht wieder nachkomme.
Die neue Afghan:innen-Praxis beruht auf der dramatisch verschlechterten Sicherheitslage afghanischer Frauen, die einer Gruppenverfolgung entspricht. Dafür macht sich sogar der EU-Generalanwalt stark. Dass kaum ein Drittland bereit sein wird, abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea bei sich aufzunehmen, liegt auf der Hand. Und die EU wird kaum bereit sein, Italien energisch an seine Schengen-Pflichten zu ermahnen.
Wir bedauern, dass der Artikel unkritisch die demagogische Erzählung der bürgerlichen Rechten über Migration übernimmt. Es handelt sich um politische Kommunikation, die Ängste organisiert, die in der Gesellschaft vorhanden sind, seit die europäischen Rechtsextremen eine Offensive gegen eine Gruppe gestartet haben, die so leicht für alle Übel zu beschuldigen ist: Menschen im Exil. Wir sollten jedoch bedenken, dass die pauschalen Behauptungen der SVP und der FDP selten auf Fachwissen, sondern oft auf groben sachlichen Fehlern beruhen. Das Faktenchecking von Vivre Ensemble über das Ruanda-Projekt, die Analyse des CSP über die Praxis gegenüber afghanischen Frauen und der Blick von Sosf auf die Versuche, die Rechte von Menschen in Eritrea abzubauen, zeigen dies deutlich.
Was will uns die NZZ also sagen? Entrechtung ist gut und führt zu weniger Asylanträgen? Diese Annahme ist doppelt falsch.
Erstens, weil trotz der schrittweisen und gewalttätigen Verschärfung der europäischen Migrationspolitik Menschen, die überleben wollen, weiterhin in Europa Schutz suchen. Was sich ändert, ist, dass sie dies auf viel gefährlichere Weise tun müssen. Darüber hinaus führen die Angriffe der Rechten auf das Asylrecht und das Recht auf Mobilität nur zu einem Abbau von Rechten, verhindern die Selbstbestimmung und ein Leben in Würde. Die gleichen rechten Parteien verantworten unwürdige Situationen wie das Nothilferegime, das Menschen, die nirgendwohin gehen können, dazu verurteilt, unterhalb der Armutsgrenze zu leben.
Schliesslich, und das muss unbedingt wiederholt werden, ist es die Aufgabe eines Rechtsstaates, der diesen Namen verdient, alles zu tun, um seine internationalen Verpflichtungen zu erfüllen, und nicht den Sirenen einer populistischen Angstmacherei nachzugeben.