Ein Gespräch zwischen Mahtab Aziztaemeh und Balthasar Glättli

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Mahtab Aziztaemeh und Balthasar Glättli im Nationalrat

Auf Initiative des Flüchtlingsparlaments hat sich Anfang des Jahres eine neue interparlamentarische Gruppe gebildet: der «Dialog Flüchtlingssession». Zwei Politiker:innen dieser Gruppe teilen mit uns ihre Gedanken dazu.

 

Sosf: Mahtab, Du bist Teil des Flüchtlingsparlaments. Wie soll man das andere Parlament nennen?


Mahtab Aziztaemeh: Gute Frage – vielleicht sollten wir es «Mehrheitsparlament» nennen, oder «Parlament der Privilegierten». Denn dort sind viele vertreten, aber nicht alle. Wir bringen mit dem Flüchtlingsparlament neue Stimmen in den demokratischen Raum. Wir sind das «Partizipationsparlament», das neue demokratische Wege geht. 


Was frustriert Dich als Betroffene an den Debatten über Asyl und Migration im Parlament? Was gibt Dir Hoffnung?


Mahtab Aziztaemeh: Was mich frustriert, ist die grundlegende Ungleichheit in diesem System. Wir sind ständig Thema – in den Medien, in politischen Debatten, in Wahlkämpfen. Aber unsere Stimmen fehlen dort fast immer. Es wird über Geflüchtete gesprochen, als wären wir ein Problem, das gelöst werden muss – nicht Menschen mit Rechten, Hoffnungen und Kompetenzen.


Im Parlament dominieren Stimmen, die uns nicht kennen und nicht verstehen wollen. Entscheidungen über unser Leben werden getroffen auf Basis von Statistiken, Sicherheitslogiken und parteipolitischem Kalkül – nicht auf Basis unserer Realität. Unsere Identität wird auf einen Aufenthaltsstatus reduziert. Statt von Würde, Gleichwertigkeit und Teilhabe zu reden, geht es ständig um Kontrolle, Ausschaffung, Angst vor Missbrauch und
die angebliche Überlastung des Systems.


Diese Haltung ist nicht nur unfair, sie ist auch gefährlich. Sie spaltet die Gesellschaft, sie untergräbt Vertrauen, sie blockiert Lösungen. Und sie ignoriert das riesige Potenzial, das in geflüchteten Menschen steckt – wenn man uns nur endlich als gleichwertige Mitglieder dieser Gesellschaft behandeln würde.


Obwohl vieles zu Frustration führt, habe ich Hoffnungen. Denn ich sehe, dass wir nicht mehr nur schweigen. Immer mehr Geflüchtete erheben ihre Stimmen, organisieren sich, fordern Rechte ein – nicht als Opfer, sondern als politische Subjekte. Das Flüchtlingsparlament ist ein klares Zeichen dafür: Wir sind da, wir sind organisiert, wir haben Visionen für eine gerechtere Gesellschaft.


Es gibt Politiker:innen, die zuhören, mitdenken, mit uns arbeiten – auch wenn sie in der Minderheit sind. Es gibt Bewegungen, Organisationen, Menschen aus der Zivilgesellschaft, die Solidarität zeigen und bereit sind, ihre Privilegien zu reflektieren. Solche Allianzen geben mir Kraft.


Auch bei jungen Menschen sehe ich Hoffnung – sie hinterfragen rassistische Strukturen, sie sprechen offen über Ausgrenzung, sie wollen Veränderung. Und ich sehe, wie geflüchtete Menschen sich gegenseitig stärken, einander begleiten, füreinander kämpfen. Diese Solidarität ist kraftvoller als jede Ablehnung.


Meine Hoffnung ist, dass wir nicht mehr nur reagieren, sondern selbst gestalten. Dass wir nicht auf Integration «warten», sondern Gleichberechtigung fordern. Und dass unsere Geschichten, unser Wissen und unsere Widerstandskraft endlich als das anerkannt werden, was sie sind: ein unverzichtbarer Teil dieser Gesellschaft.


Balthasar, was frustriert Dich als linker Politiker an den Debatten über Asyl und Migration im Parlament? Was gibt Dir Hoffnung?


Balthasar Glättli: Am meisten frustriert mich, dass viele Vorstösse über Jahre immer wieder praktisch gleich eingebracht werden von der SVP, ohne Kenntnis der Sache, ohne Respekt vor den Grund- und Menschenrechten. Bloss um Stimmung zu machen. Allerdings macht mir nicht die SVP am meisten Angst – sondern die Tatsache, dass aktuell die FDP und teilweise auch die Mitte nun im Gleichschritt marschieren. Ohne sie hätte die SVP ja keine Mehrheiten. Hoffnung gibt mir, dass in der Bevölkerung auch unsere Standpunkte durchaus wahrgenommen werden, wenn man es wagt, sie prononciert zu vertreten. So sind die ständigen Angriffe von rechts auch eine Chance, für eine andere, menschlichere Politik einzutreten.


Mahtab und Balthasar: Wie könnte man diese Probleme lösen?


Balthasar Glättli: Ohne nun in eine Medienschelte zu verfallen, muss ich doch feststellen, dass viele Medienschaffende oft ein kurzes Gedächtnis haben und auch grundlegende Fakten aus dem Migrations- und Flüchtlingsbereich nicht kennen. Konkretes Beispiel: Sowohl die NZZ als auch der Tages-Anzeiger haben eine grosse Story gebracht über einen kriminellen Flüchtling, der trotz Landesverweis in der Schweiz bleiben kann – und dabei den Protest der SVP prominent erwähnt. Ohne meine Intervention wäre niemand darauf gekommen, dass ja genau diese Thematik den Anstoss zur Anti-Menschenrechtsinitiative der SVP gab: Sie wollte Ausschaffungen auch gegen internationales Recht durchsetzen. Und wurde mit zwei Dritteln Neinstimmen klar abgelehnt.

 

Mahtab Aziztaemeh: Diese Probleme kann man nur lösen, wenn man den Mut hat, die Perspektive zu wechseln – und die Geflüchteten endlich als Teil der Lösung ansieht. Wir brauchen nicht noch mehr über uns, sondern mit uns. Politische Entscheidungen über Migration und Asyl müssen unter direkter Beteiligung von Menschen mit Fluchterfahrung getroffen werden – auf allen Ebenen.

 

Das beginnt damit, dass wir in Kommissionen, Anhörungen und Parlamenten mitreden dürfen – mit Stimmrecht. Wir brauchen verbindliche Strukturen für politische Mitbestimmung. Projekte wie das Flüchtlingsparlament müssen nicht nur geduldet, sondern ernst genommen und gestärkt werden. 


Ausserdem müssen rechtliche Hürden wie der F-Status reformiert werden. Menschen, die seit Jahren hier leben, sollen ein sicheres Bleiberecht, Zugang zu Arbeit, Bildung und Mobilität bekommen – ohne ständige Angst vor Rückschaffung. Teilhabe ist kein «Geschenk», sie ist ein Menschenrecht.


Und wir brauchen einen Kulturwandel in der Politik: weg von der Angstlogik, hin zu einer Politik der Gerechtigkeit, die Menschen in den Mittelpunkt stellt – nicht Herkunft oder Pass. Dafür braucht es politische Bildung, antirassistische Sensibilisierung und klare Haltung gegen rechte Hetze.


Am Ende geht es um die Frage: Wollen wir wirklich eine demokratische Gesellschaft für alle – oder nur für einige? Die Antwort liegt nicht in schönen Worten, sondern in konkretem Handeln. Und dafür kämpfen wir.
 

Wie könnte man die Perspektive von Geflüchteten besser in die Parlamentsdebatten einbringen?


Mahtab Aziztaemeh: Die Perspektive von Geflüchteten kann nur dann wirklich in die Parlamentsdebatten einfliessen, wenn wir systematisch eingebunden werden – nicht nur symbolisch. Es reicht nicht, uns einmal im Jahr anzuhören oder zu Projekten einzuladen. Unsere Stimmen müssen ein fester Bestandteil der politischen Prozesse sein.

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung ist die parlamentarische Gruppe des Flüchtlingsparlaments «Dialog Flüchtlingssession». Diese Gruppe kann als Brücke zum nationalen Parlament dienen, indem sie regelmässig in den Dialog tritt, politische Themen aus der Perspektive der Geflüchteten aufbereitet und als echte Gesprächspartnerin in die Entscheidungsfindung einbezogen wird. Es muss eine kontinuierliche Zusammenarbeit geben, bei der Politiker:innen bereit sind, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und unsere Forderungen ernsthaft aufzunehmen.


Ein weiterer Schritt wäre, dass diese parlamentarische Gruppe des Flüchtlingsparlaments nicht nur als «Beratungsgremium» wahrgenommen wird, sondern als gleichwertiger Akteur im politischen Prozess. Unsere Erfahrungen und Perspektiven müssen genauso gewichtet werden wie die der etablierten Parteien.


Zusätzlich braucht es gezielte Förderprogramme, die es Menschen mit Fluchterfahrung ermöglichen, selbst politische Karrieren anzustreben – sei es durch Mentoring, politische Bildung oder rechtliche Erleichterungen beim Zugang zu Ämtern. 


Es geht um echte Teilhabe und die Anerkennung, dass wir als gleichwertige Mitglieder dieser Gesellschaft in der Politik vertreten sein müssen. 


Balthasar Glättli: Die parlamentarische Gruppe «Dialog Flüchtlingssession» will genau dies: Parlamentarier:innen mit der Realität von Flüchtlingen bekanntmachen. Damit diese dann diese Perspektiven auch berücksichtigen können. 


Sollten Migrant:innen eine Lobby bilden? Was wäre ihr Hebel?


Balthasar Glättli: Meine Empfehlung ist immer, an die grundlegenden Menschenrechte zu appellieren. Der Test, wie eine bestimmte Gesellschaft, hier die Schweiz, es mit den Grundrechten hält, ist immer am Beispiel von besonders stark diskriminierten oder am Rande stehenden Gruppen zu machen.


Mahtab Aziztaemeh: Ja, Migrant:innen sollten eine Lobby bilden – nicht nur, um ihre Interessen zu vertreten, sondern auch, um als politische Akteur:innen wahrgenommen zu werden. Eine starke Lobby ermöglicht es, die politischen Entscheidungen, die sie betreffen, aktiv mitzugestalten, anstatt nur darauf zu reagieren. Der Hebel einer solchen Lobby würde vor allem in ihrer kollektiven Stimme und politischen Mobilisierung liegen. Durch den Aufbau von politischen Allianzen mit anderen Minderheiten, sozialen Bewegungen und solidarischen Gruppen könnte sie ihre Forderungen kraftvoller durchsetzen und die politische Landschaft beeinflussen.


Darüber hinaus könnte die Lobby öffentliche Aufmerksamkeit erzeugen und so gesellschaftliche und politische Diskussionen verändern, indem sie die Perspektiven von Migrant:innen stärker in den Mittelpunkt rückt. Sie könnte mit Fakten und Daten aufzeigen, welche tatsächlichen Bedürfnisse und Herausforderungen Migrant:innen in der Gesellschaft haben, um die politischen Entscheidungen fundierter und gerechter zu gestalten.


Ein weiterer wichtiger Hebel wäre die Forderung nach besseren rechtlichen Rahmenbedingungen, die den Zugang zu Bürgerrechten, Bildung, Arbeit und gesellschaftlicher Teilhabe für Migrant:innen verbessern und langfristig echte Veränderungen ermöglichen würden.


Was erhofft Ihr Euch von der interparlamentarischen Gruppe «Dialog Flüchtlingssession»? Was befürchtet ihr?


Balthasar Glättli: Meine grösste Befürchtung ist, dass die Gruppe nur jene erreicht, welche bereits heute ein offeneres Ohr für die Anliegen von Flüchtlingen haben. Meine Hoffnung ist, dass es gelingt, auch mit Leuten aus der Mitte und den rechten Parteien eine offene Diskussion zu führen.


Mahtab Aziztaemeh: Ich erhoffe mir von der interparlamentarischen Gruppe «Dialog Flüchtlingssession», dass sie ein echtes Forum für den Austausch zwischen geflüchteten Menschen und den nationalen Parlamentarier:innen schafft. Es wäre ein wichtiger Schritt, unsere Perspektiven direkt in politische Entscheidungen einzubringen und die Zusammenarbeit zu intensivieren. Ich erhoffe mir mehr Gehör und eine stärkere Beteiligung an politischen Prozessen. 


Meine Befürchtung ist, dass die parlamentarische Gruppe nur diejenigen erreicht, die bereits unsere Verbündeten sind. Diejenigen, die sich gegen uns stellen oder uns nicht zuhören wollen, werden vermutlich weiterhin aussen vor bleiben. Ohne eine breitere, ernsthafte Teilnahme von all denjenigen, die unsere Perspektiven noch nicht gehört haben oder uns ablehnen, könnte dieser Dialog nur in einem kleinen, abgeschotteten Kreis stattfinden und letztlich wenig Veränderung bewirken. Das würde einen wirklichen Wandel behindern und die Spaltung weiter vertiefen.


Mahtab Aziztaemeh arbeitet für das Flüchtlingsparlament und das National Building Coalition Institute (NCBI).


Balthasar Glättli ist Nationalrat der Grünen und Vorstandsmitglied von Sosf.

 

Dieses Gespräch erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2 / 2025.