Herr Ständerat und die türkischen Geflüchteten

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Dessin de vêtements en fuite

Marco Chiesa, glänzend wiedergewählter Ständerat aus der italienischen Schweiz und zurückgetretener SVP-Präsident, verlangte Ende Dezember 2023 vom Bundesrat, er solle verhindern, dass in Zukunft Personen aus Europaratsstaaten in der Schweiz Asyl erhalten.

 

Schliesslich seien die 46 Staaten des Europarats, darunter auch die Türkei, allesamt international anerkannte Rechtsstaaten und hätten die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) unterzeichnet. Er finde es erstaunlich, dass sich über 7‘400 türkische Staatangehörige im Asylprozess befänden. Offenkundig verstosse das SEM in der Praxis systematisch gegen die Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 3 des Asylgesetzes. Geflüchtete aus Staaten des Europarats seien «aus dem Asylprozess auszuschliessen».

 

Sein Vorstoss, der in der Frühjahrsession 2024 als Erstes im Ständerat diskutiert wird, ist direkt gegen Verfolgte aus der Türkei gerichtet; davon betroffen sein könnten jedoch auch alle andern Angehörigen von Staaten des Europarats, die in der Asylstatistik weniger prominent aufscheinen.[1]

 

Dass die Türkei als Mitglied des Europarats formell als Rechtsstaat gilt und die EMRK unterzeichnet hat, ändert nichts daran, dass sie vom Gerichtshof für Menschenrechte immer wieder wegen massiver Menschenrechtsverletzungen verurteilt wird und sich manchmal sogar weigert, dessen Urteile umzusetzen.[2] Und wer in der Türkei die Regierung Erdogan kritisiert, insbesondere wenn man sich als Kurd:in oder Alevit:in zu erkennen gibt, steht bekanntlich mit einem Bein im Gefängnis. 

 

So erhalten Verfolgte aus der Türkei  – wie alle anderen auch – in der Schweiz Asyl, falls sie die Flüchtlingskriterien von Art. 3 des Asylgesetzes erfüllen, was erst nach umfangreichen Abklärungen feststeht.[3] Das ist nichts anderes, als der korrekte Vollzug von Art. 3. Wer auf die Idee kommt, diese Praxis verstosse gegen die Definition des Flüchtlingsbegriffs, hat noch nie ein Asylverfahren von Nahem verfolgt. Es ist nicht erstaunlich, sondern entspricht seinem Parteibüchlein, dass Herr Chiesa all dies ignoriert. Er meint offensichtlich, Geflüchtete aus der Türkei könnten mit einem argumentativen Rosstäuschertrick von der Schweiz ferngehalten werden. Fehlt nur noch das Argument, man könne so echte Flüchtlinge von den falschen trennen.

 

Seien wir ehrlich, Herr Chiesa, ihrem Vorstoss kann niemand ernsthaft folgen.

 

[1] Wie z.B. Geflüchtete aus Georgien oder Aserbaidschan

[2] Die Türkei weigerte sich z.B., Osman Kavala, einen Kulturförderer, der seit 2017 im Gefängnis sitzt, aus der jahrelangen Haft freizulassen, obwohl der EGMR dies verlangte. Sie wurde deshalb zu einer Geldstrafe von 7‘500 Euro verurteil.

[3] Gemäss Art. 3 des Asylgesetzes sind «Flüchtlinge» «Personen, die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Anschauungen ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind oder begründete Furcht haben, solchen Nachteilen ausgesetzt zu werden.»

 

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