Die verlogenen Argumente hinter der 10-Millionen-Initiative

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Manchmal reicht eine einzige Frage, um Klarheit zu schaffen: «Wer würde denn profitieren, wenn die Schweiz die 10-Millionen-Initiative der SVP annehmen würde?» So gestellt hat sie Fabio Canetg, Moderator des Wirtschaftspodcasts «Geldcast», in seiner Sendung mit dem ETH-Arbeitsmarktexperten Michael Siegenthaler vom letzten Herbst. In einem Podcast notabene, der nicht gerade glänzt mit linker Kapitalismuskritik: Zuletzt durften etwa Ex-Credit-Suisse-CEO Oswald Grübel und UBS-Geschäftsleitungsmitglied Markus Ronner im «Geldcast» gegen höhere Eigenkapitalregeln lobbyieren.


Und auch Siegenthaler fiel nie als linker Scharfmacher auf. Trotzdem antwortet er auf die Frage zur 10-Millionen-Initiative so kurz wie klar: «Es könnte durchaus sein, dass wir alle verlieren würden.» Und das wäre ein riesiges Problem, denn: Wenn alle verlieren, gibt es keine Gewinnerinnen, die die Verlierer entschädigen können – was sonst zumindest theoretisch möglich ist.


Es droht ein Japan-Szenario
Siegenthaler ergänzt seine Antwort mit dem Hinweis auf die Schweizer Stagnationsphase nach dem Nein zum EWR-Beitritt von 1992. Eine Zeit, in der die Schweiz während fast eines halben Jahrzehnts nicht mehr gewachsen ist. Könnte Ähnliches auch bei einem Ja zur 10-Millionen-Initiative geschehen?


«Vielleicht hätten wir ein bisschen mehr Wachstum pro Kopf», sagt Siegenthaler, «doch irgendwann würden uns die Arbeitskräfte ausgehen.» Zudem würden die Firmen wahrscheinlich «zu grossen Teilen» abwandern – auch die produktiven. Siegenthaler nennt das eine «Japan-Ökonomie». In Japan ist die Wirtschaft seit 2010 real um nur rund 10 Prozent gewachsen. Zum Vergleich: In der Schweiz ist das Bruttoinlandsprodukt in derselben Zeit um beinahe 30 Prozent gestiegen.


Das ist auch wegen der vergleichsweise hohen Zuwanderung in die Schweiz so. Der Nutzen der Zuwanderung allerdings sei nicht sehr offensichtlich, so Siegenthaler: «Die Tatsache, dass ein Unternehmen nicht ins Ausland ging, weil es EU-Arbeitskräfte anstellen konnte: Das ist nicht etwas, was die Leute mit der Personenfreizügigkeit verbinden.»


Das politische Kalkül der SVP geht auf
Die Kosten wären dagegen viel offensichtlicher: «Es gibt mehr Leute, wir haben unter Umständen tatsächlich auch höhere Wohnungspreise wegen der Zuwanderung, etwas mehr Stau, die Infrastruktur kommt nicht mit – das ist alles sehr wahrnehmbar», so Siegenthaler. Die Wahrnehmung der Zuwanderung würde aber auch politisch instrumentalisiert. «Die Arbeitsmarkteffekte der Zuwanderung sind sekundär, wenn es um die Wahrnehmung der Zuwanderung geht. Viel wichtiger sind gefühlte oder auch bespielte Ängste der Bevölkerung».


Das heisst: Die Bevölkerung der Schweiz profitiert aus ökonomischer Sicht von der Zuwanderung. Trotzdem wird sie von der SVP schlechtgeredet – aus politischem Kalkül. Das Bonmot von Ex-US-Präsident Bill Clinton («It’s the economy, stupid!») gilt für die Rechtspopulisten offenbar nicht mehr. 

 

Die neue Identitätspolitik von rechts 

Zu einem ähnlichen Fazit kommen auch Canetg und Siegenthaler im «Geldcast». Moderator: «Bedeutet das, dass die Leute gegen Einwanderung sind, obwohl sie ihnen wirtschaftlich hilft?» Siegenthaler: «Das ist so.» – Wer hätte das gedacht?

 

Dieser Artikels erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2 / 2025.