Einreise-/Ausreisesystem EES: Eine (N)Ever Ending Story?

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Einreise-/Ausreisedatenbank EES

Als Mitte der 2000er Jahre biometrische Fingerabdrücke Einzug in Reisepässe und Identitätskarten hielten, war die Kreativität der Migrations- und Sicherheitsbehörden nicht mehr zu bremsen. Von einer «Grenze der Zukunft» war plötzlich die Rede, gar von «intelligenten Grenzen», die erwünschte Bewegungen ungehindert passieren lassen, unerwünschte Reisende aber automatisch herausfiltern können. Die IT-Industrie scharrte mit den Hufen und priess gegenüber der Politik die Vorzüge der Digitalisierung und insbesondere der Biometrie an. Diese sollte für reibungslose und stark beschleunigte Grenzkontrollen sorgen und gleichzeitig auch noch die Sicherheit erhöhen.

 

2012 präsentierte die EU-Kommission daraufhin ein «Smart Borders»-Gesetzespaket, das ein biometrisches Registrierungsprogramm für Vielreisende vorsah, ebenso wie eine Datenbank, die sämtliche Ein- und Ausreisen aus dem Schengenraum erfasst. Dadurch wollte die EU zum einen das vermeintlich aufwändige Stempeln von Reisepässen ersetzen, gleichzeitig aber auch sogenannte visa overstayers aufspüren. Personen also, die mit einem gültigen Visum in den Schengenraum eingereist, nach Ablauf des Visums aber nicht wieder ausgereist sind. Nach anfänglichen Zweifeln angesichts der enormen Kosten und des umstrittenen Nutzens solcher Systeme wurde das Gesetzespaket 2017 in modifizierter Form angenommen. Fortan sollte nur ein einziges, «Entry/Exit System» (EES) genanntes System eingeführt werden, das neben den Ein- und Ausreisen von Drittstaatsangehörigen auch ihre Fingerabdrücke und Gesichtsbilder speichert. Die gesetzliche Übernahme in der Schweiz folgte zwei Jahre später, geplant war die Einführung zunächst für 2021.

 

Verzögerungen statt Beschleunigung

Dann jedoch kam COVID und zudem stellte sich die biometrische Aufrüstung sämtlicher Grenzübergangsstellen zu Land, zu Wasser und in der Luft als durchaus komplexe Aufgabe heraus. Tests ergaben, dass die zusätzliche Erfassung der Fingerabdrücke und Gesichtsbilder aller Nicht-EU-Reisenden die Grenzkontrollprozesse alles andere als beschleunigen wird. Vielmehr drohte sich die Dauer der Grenzkontrollen zu verdoppeln, wenn nicht gar zu vervierfachen. Als Alternative setzte man nun auf Selbstbedienungskioske, an denen Reisende ihre Fingerabdrücke und Gesichtsbilder eigenständig einscannen sollen, um so die Dauer der eigentlichen Grenzkontrolle kurz zu halten. Der Flughafen Zürich schaffte solche Terminals auch für mehr als 8 Millionen Franken an, seitdem verstauben sie allerdings am Terminal E und werden bisher nicht genutzt.

 

Denn auch der Aufbau des EES-Zentralsystems verzögerte sich stark. Immer wieder mussten die beauftragten IT- und Biometrie-Unternehmen eingestehen, dass sie die vereinbarten Leistungen nicht fristgerecht ausführen können. Ihre grossen Versprechungen stellten sich wiederholt als Floskeln heraus. Viermal schon wurde der Start des EES seit 2021 deshalb verschoben. Rechenschaft ist die Industrie jedoch selten schuldig, weil auch die verantwortliche EU-Agentur eu-LISA von früheren Mitarbeiter:innen der grössten IT-Firmen Europas geleitet wird.

 

Mitte November hätte es nun eigentlich so weit sein sollen. Doch beim Treffen der EU-Innenminister:innen im Oktober in Luxemburg musste die EU-Kommission bekannt geben, dass die Voraussetzungen für den Start immer noch nicht erfüllt sind. Zwanzig Jahre nach den ersten Diskussionen über «intelligente Grenzen» und mehr als sieben Jahre nach der Verabschiedung der EES-Verordnung steht der Zeitpunkt der Inbetriebnahme des Systems also weiterhin in den Sternen.

 

Gute Nachricht für Sans-Papiers

Für potenziell vom EES Betroffene ist dies jedoch eine gute Nachricht. Nicht nur entsteht mit dem EES angesichts von 700 Millionen Reisenden pro Jahr die bisher wohl grösste biometrische Datenbank der EU, die erneut auch Strafverfolgungsbehörden Zugang gewährt. Das EES soll erstmals auch ein umfassendes Bild über alle sich legal im Schengenraum aufhaltende Drittstaatsangehörigen liefern – ein staatliches Kontrollwissen, das zu neuen Visumspflichten für aktuell noch visumsbefreite Länder führen könnte.


Aber auch der Sans-Papiers-Bewegung gibt die Verzögerung die Möglichkeit, sich besser auf das neue System vorzubereiten. Denn wird nach 90 Tagen legalem Kurzaufenthalt im Schengenraum keine Ausreise im EES registriert, schlägt das System Alarm und in der Schweiz wird das SEM über die betroffene Person informiert, inklusive ihrer persönlichen und biometrischen Daten. Auch die kantonalen Polizeien werden das EES in Personenkontrollen abfragen können, zum Beispiel um direkt festzustellen, ob sich eine Person legal im Land aufhält oder um sie anhand der hinterlegten biometrischen Daten zu identifizieren. Gerade für Sans-Papiers, die oft mit einem Kurzzeitvisum eingereist sind, stellt jede Verzögerung beim EES also eine gewisse Verschnaufpause dar.

 

Dieser Artikel erschien zuerst im Sosf Bulletin Nr. 4/2024.