Geschlechterspezifische Gewalt und das Asylsystem

Artikel
Photo d'une manif

Sosf nahm an einer Konferenz gegen sexistische Gewalt im Musée d'Histoire in Delémont teil. Dieser Artikel beleuchtet unterschiedliche Aspekte der Entwicklung zu diesem Thema aus feministischer Perspektive.

 

Im Asylbereich, wie auch in anderen Bereichen, wurden Frauen und geschlechtliche Minderheiten unsichtbar gemacht. Die Gesetzgeber hatten lange Zeit eine sehr männliche Perspektive auf Asylerfahrungen, wobei Frauen vor allem als Begleiterinnen im Exil betrachtet wurden. Sie wurden nicht als Personen mit eigenen Fluchtgründen wahrgenommen. Das gilt erst Recht in der Schweiz.

 

Ein erstes Bewusstsein
Erst die Änderung des Schweizer Asylgesetzes von 1998 brachte einen kleinen Zusatz, der hart erkämpft werden musste. Im zweiten Absatz der Flüchtlingsdefinition heißt es "frauenspezifischen Fluchtgründen ist Rechnung zu tragen". Diese Fluchtgründe sind zahlreich und existieren seit langem: Zwangsheirat, Genitalverstümmelung, sexuelle oder häusliche Gewalt, Menschenhandel, um nur einige zu nennen. Im selben Jahr definierte der Internationale Strafgerichtshof Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Zwangsprostitution, erzwungene Schwangerschaften oder jede andere schwere Form sexueller Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und als Kriegsverbrechen - und bestätigt deren Relevanz als Fluchtgrund. Dennoch brauchte das SEM weitere 10 Jahre, um das Kapitel "geschlechtsspezifische Verfolgung" in sein Handbuch "Asyl und Rückkehr" aufzunehmen. Was aber immer noch nicht heisst, dass es die Herausforderung rund um diese in der Praxis ausreichend berücksichtigt.

 

Schlecht genutzt : Die Istanbul-Konvention 
Das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (die sogenannte Istanbul-Konvention) wurde im Mai 2011 in der Türkei verabschiedet. Es handelt sich dabei um einen völkerrechtlichen Vertrag, der Gewalt gegen Frauen als eigenständige Menschenrechtsverletzung sowie als Problem der geschlechtsspezifischen und historisch verankerten Dominanz und Diskriminierung von Frauen anerkennt .  
Im Text des Übereinkommens wird Transidentität nicht erwähnt, doch kann ein breiteres Verständnis von Geschlechtern dem Abhilfe verschaffen. Im Gegensatz zum biologischen Geschlecht bezeichnet die Genderperspektive "die sozial konstruierten Rollen, Verhaltensweisen, Aktivitäten und Zuschreibungen, die eine bestimmte Gesellschaft für Frauen und Männer als angemessen erachtet". In der Schweiz hat das Transgender Network Switzerland wichtige Arbeit geleistet, um zu erreichen, dass im Staatenbericht ein Hinweis darauf aufgenommen wird, dass der im Übereinkommen verwendete Begriff "Frau" auch für transsexuelle Frauen gilt. Agender, intersexuelle Menschen und Transmänner, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer geschlechtlichen Minderheit massiv von sexueller Gewalt betroffen sind, werden in der Konvention und ihrer schweizerischen Auslegung weiterhin nicht erwähnt.

 

Die Konvention erkennt auch an, dass bestimmte Gruppen von Frauen und Mädchen stärker als andere gefährdet sind, Gewalt zu erleiden, insbesondere Frauen und Mädchen mit Behinderungen, aber auch Migrant:innen. Aus diesem Grund fordern die Artikel 60 und 61 der Istanbul-Konvention die Unterzeichnerstaaten auf, Initiativen zu ergreifen, um Asyl- und Aufnahmeverfahren geschlechtersensibel zu gestalten.

 

Die Istanbul-Konvention ist in der Schweiz seit dem 1.April 2018 in Kraft. Der Nationale Aktionsplan 2022-2026 für deren Umsetzung wurde im Juli 2022 vom Bundesrat verabschiedet. Als im Parlament darüber diskutiert wurde, ob die Konvention ratifiziert werden sollte oder nicht, hatte sich die extreme Rechte dagegen ausgesprochen und argumentiert, dass die Schweiz bereits mehr tue, als das, was vorgeschrieben sei.

 

Doch ein Blick auf die Asylverfahren aus geschlechterspezifischer Perspektive zeigt klar, dass die Realität ganz anders aussieht. Die mentale Last sexistischer Gewalt liegt bei den Frauen, sie sind es, die sagen müssen, und sie sind es, die beweisen müssen. Sexuelle Gewalt ist eine intime, zerstörerische und unsagbare Gewalt. Tabus sind weit verbreitet, ebenso wie Phänomene, die den Betroffenen Schuldgefühle einreden. Um über eine Episode sexueller Gewalt berichten zu können, braucht es Zeit, Vertrauen und ein Gefühl der Sicherheit. Im schweizerischen Asylverfahren wird nichts unternommen, um einen Raum entlang diesen Prinzipien zu schaffen. Die Revision des Asylrechts in der Schweiz von 2016 wurde von einem Großteil der abstimmenden Bevölkerung als Verbesserung wahrgenommen, da eine kostenlose Rechtsvertretung für jedes Asyldossier eingeführt wurde. In der Realität sind die zeitlichen und finanziellen Ressourcen dieser Rechtsvertretung sehr begrenzt, was es den Jurist:innen in den Bundeszentren erschwert, Fällen von sexualisierter Gewalt die erforderliche Zeit zu widmen. Der Zugang zu Gesundheit, insbesondere zur psychischen Gesundheit, ist in den Bundesasylzentren extrem schwierig.

 

Gleichgültigkeit gegenüber Vergewaltigungen 
Und wenn es den Menschen gelingt, von der erlittenen sexuellen Gewalt zu berichten, wird ihr Wort in Frage gestellt oder als bedeutungslos eingestuft. Die Juristin Lucia Della Torre  berichtet in ihrem Artikel über die Anwendung der Istanbul-Konvention durch die Schweiz von zwei Situationen, die den unsensiblen Umgang des SEMs mit dem Thema Vergewaltigung exemplarisch beschreiben.

 

In der ersten Situation wurde eine Frau in ihrem Herkunftsland von der Polizei vergewaltigt. Sie schilderte dieses Erlebnis in ihrer Anhörung. Ihr Gesuch wurde vom SEM mit der Begründung abgelehnt, dass ihre Aussagen nicht "glaubhaft" seien. Das SEM begründete die Ablehnung damit, dass sich die Beschwerdeführerin nicht daran erinnerte, ob sie von mehreren Personen oder wiederholt von derselben Person vergewaltigt worden sei. In der Folge bezeichnete das BVGer in seiner Antwort auf die Beschwerde der betroffenen Frau den Kommentar des SEM als unangemessen . In der zweiten berichteten Situation betrachtet das SEM eine Vergewaltigung, die eine Frau in Syrien durch die islamistische Miliz Fatah al-Cham erlitten haben soll, als "unglückliche Tatsache" und lehnt den Asylantrag ab. Auch dieser Entscheid wird vom BVGer kassiert (siehe Della Torre).

 

Diese beiden Situationen decken sich mit anderen Berichten von Asylbewerber :innen gegenüber Aktivist:innen: beleidigende Fragen über ihr Verhalten vor, während oder nach der Vergewaltigung, und zwar minutenlang während der Asylanhörung, sowie Zweifel an ihren Aussagen. Dabei wurden manchmal gar klare Hinweise auf Missbrauch oder auf Gefangenschaft in Menschenhandelsnetzen geleugnet oder ignoriert. Ebenso wird Betroffenen häufig vorgeworfen, nicht "kohärent" oder "glaubwürdig" zu sein. Das Hochkommissariat für Flüchtlinge hat 1991 Richtlinien für den Schutz von Flüchtlingsfrauen erlassen, in denen klar festgehalten ist, dass in den Interviews "nicht nach Einzelheiten des sexuellen Missbrauchs gefragt werden sollte ». Denn «wichtig für die Feststellung, ob die Angst vor Verfolgung begründet ist, ist der Nachweis, dass irgendeine Form des Missbrauchs tatsächlich erlitten wurde».

 

Das SEM hat Kenntnis von diesen Richtlinien aber scheint diese bewusst zu ignorieren, wie ein Blick in die SEM-eigenen Veröffentlichungen zum Thema zeigt. In Bezug auf Befragungen zu sexueller Gewalt erklärt das SEM in seinem Handbuch dazu folgendes: "Trotz verschiedener Meinungen, die darauf hinauslaufen, dass Opfer sexueller Gewalt nicht in der Lage sind, diese während der Anhörung zu schildern, zeigen die Erfahrungen des SEM, dass Opfer von geschlechtsspezifischer Verfolgung in der Lage sind, ihre Asylgründe ausführlich darzulegen, wenn sie in einer Atmosphäre des Vertrauens und der Empathie angehört werden."

 

Zahlreiche Traumaforschungen, die übrigens vom BVGer selbst zitiert werden  , zeigen zudem, dass traumatisierte Personen oft nicht in der Lage sind, genaue, vollständige und kohärente Aussagen zu machen. Das SEM betrachtet wissenschaftliche Gutachten demnach lediglich als "Meinungen" und ist der Ansicht, dass ein Klima des Vertrauens und der Empathie ausreicht, um traumatisierte Personen zum Reden zu bringen. Diesbezüglich stellt sich die Frage, wann das SEM ein solches Klima schaffen will? Das es derzeit nicht besteht, scheint mit Blick auf die Berichterstattung rund um Asylprozesse und Bundesasylzentren kaum bestreitbar.

 

Bewusst Lückenhafte Gesetzgebung 
Sexistische Gewalt ist nicht immer aber oft ein Mit- oder Hauptgrund für Flucht. Sie findet aber nicht nur im Herkunftsland, sondern auch auf der Reise, im Transit und nach der Ankunft statt. Ob durch Schlepper, andere Migrant:innen, Grenzbehörden oder die Polizei - Frauen auf dem Weg ins Exil sind ständig von sexistischer Gewalt bedroht. Die SAJE (Service d’aide juridique aux exilé·es, die Rechtsberatungsstelle des HEKS im Waadtland) schätzte 2017, dass 90% der Frauen, die durch Italien gereist waren, Opfer sexueller Gewalt geworden waren. Was auf den Routen passiert, spielt bei der Prüfung der Asylgründe für das SEM jedoch keine Rolle  - es behandelt ausschliesslich die Situation und Erlebnisse im Herkunftsland. Was dazwischen geschieht, ist für die Gewährung eines Bleiberechts kaum relevant.

 

In der Schweiz gibt es ein Opferhilfegesetz, das OHG, das nach der Anerkennung des Opferstatus (im rechtlichen Sinne) unter anderem rechtlichen, sozialen und finanziellen Schutz garantiert.  Das OHG gilt jedoch nur, wenn die Gewalt in der Schweiz stattgefunden hat. Das ist ein sehr großes Problem, denn natürlich folgen die Folgen von Gewalt nicht der Logik von Landesgrenzen. Unabhängig davon, wo die Gewalt stattfindet, reist das Trauma mit den Betroffenen.

 

So reicht die unterwegs erlittene Gewalt, die zum Trauma beiträgt, das eine medizinische Versorgung, Ruhe und Erholung erfordert, nicht einmal aus, um Betroffene vor einer Abschiebung zu schützen. Eine Möglichkeit wäre der Nachweis, dass der psychische Zustand so schlecht ist, dass dieser eine dringende und nur in der Schweiz erhältliche Behandlung erfordert. Bereits im Asylverfahren müsste es einen echten Zugang zu medizinischer Versorgung geben. Seit der Einführung der Revision von 2016 haben viele kritische Stimmen den fehlenden Zugang zur Gesundheitsversorgung angeprangert- unter anderem die Koalition unabhängiger Juristinnen und Juristen, die ODAE und humanrights.ch.

 

Das Dublin-System
Das Dublin-System, das zur Bekämpfung des "Asylshoppings" eingeführt wurde, hat nicht nur eine Situation geschaffen, in der Asylsuchende wie Waren von einem Land zum anderen geschoben werden. Die Praxis der Dublin-Rückführungen stellt gerade für Opfer sexualisierter Gewalt eine erhebliche Gefährdung dar, da sie Betroffene unter Umständen dorthin zurückbringt, woher sie geflohen sind. Das Dublin-Abkommen besagt, dass das erste Land im Schengen-Raum, das eine asylsuchende Person betreten hat, für ihr Verfahren zuständig ist. Das Dublin-Verfahren in den Bundeszentren ist grundsätzlich beschleunigt, das bedeutet, dass die Personen innerhalb von 140 Tagen zurückgeschickt werden müssen. Dies lässt keine Zeit, um eine korrekte medizinische Betreuung sicherzustellen. Es bedeutet vor allem, dass die Personen nach ihrer ersten Anhörung in eines der Abschiebezentren gebracht werden, wo, der Zugang zur Gesundheitsversorgung stark eingeschränkt ist. Ebenso ist der Rechtsschutz oftmals nicht ausreichend, um eine Beschwerde einzureichen. Ganz zu schweigen von der Gewalt in und um die Bundeszentren. Konkret bedeutet dies, dass Personen dorthin zurückgeschickt werden können, wo sie sexuelle Gewalt erlitten haben. Dasselbe gilt für Personen, die von Menschenhandel betroffen waren. Die Begründung des SEM ist immer dieselbe: Jeder Dublin-Staat ist souverän und in der Lage, für die ihm anvertrauten Personen zu sorgen – wer nach Griechenland, Kroatien oder Italien schaut weiss, dass das nicht stimmt.

 

Langsame Veränderungen
Von der völligen Abwesenheit von Frauen in den Asylgesetzen über die Einführung eines verbindlichen Rechtsinstruments wie der Istanbul-Konvention bis hin zur langsamen Verbesserung des Asyl- und Rückkehrhandbuchs des SEM*; gewisse positive Veränderungen fanden in den letzten Jahren dennoch statt. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, wie diese Veränderungen zustande kamen.

 

Diese Veränderungen finden nicht von selbst innerhalb des Asylsystems statt oder wurden von den verantwortlichen Institutionen angestossen. Sie wurden erkämpft von einer Koalition aus Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Akteur :innen. Damit diese Veränderungen weiterhin stattfinden können, bedarf es einer aktiven Zivilgesellschaft, die die Missachtung der Menschenrechte aufdeckt und sich politisch für Veränderungen einsetzt. Die umfangreichen und dokumentierten Beschwerden, die von engagierten Jurist:innen manchmal außerhalb und jenseits des staatlichen Mandats eingereicht werden, ermöglichen eine Entwicklung der Rechtsprechung hin zu einem größeren Schutz von Personen, die sexualisierte Gewalt erlitten haben.

 

Es ist auch notwendig, sich darüber im Klaren zu sein, dass dies nicht ohne die Betroffenen geschehen kann. Es ist zentral, dass ihre Stimmen gehört werden. Zeug:innenenaussagen erfordern enorm viel Mut. Diese Arbeit hat insbesondere das transnationale Kollektiv Feminist Asylum geleistet. Das Kollektiv aus mehr als 260 Organisationen hat eine große Kampagne gestartet. Diese gipfelte in einer Petition, die am 18. Mai 2022 im Europäischen Parlament und am 14. Juni desselben Jahres im Schweizer Parlament eingereicht wurde. Es wurden zahlreiche Zeug:innenaussagen gesammelt, die auf den sozialen Netzwerken des Kollektivs zu sehen sind und die eine effektive Anerkennung der Asylgründe von Frauen und queeren Personen fordern.

 

Nötiger denn je
Wir veröffentlichen diese Zeilen, während im Iran mutige Frauen Risiken eingehen, um ein Regime zu stürzen, unter dem die gesamte Bevölkerung leidet. Auch in dieser Situation wird das Schweizer Asylsystem keine große Hilfe sein. Im Jahr 2012 beschloss das Parlament im Rahmen der dringlichen Maßnahmen, die dann 2013 von der Bevölkerung, die von ihrem Stimmrecht Gebrauch machte, angenommen wurden, die Möglichkeit, in Botschaften Asyl zu beantragen, abzuschaffen. Es bleibt die Möglichkeit, ein humanitäres Visum zu beantragen, aber die Bedingungen sind so restriktiv, insbesondere der Nachweis einer besonderen Verbundenheit mit der Schweiz und die Unmöglichkeit, in einem anderen Land um Schutz zu ersuchen, dass die Schweiz wahrscheinlich nur wenig Asyl gewähren wird. Zum Vergleich: Nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan im September letzten Jahres hat die Schweiz 100 solcher Anträge (von mehr als 1800 Anträgen) zugewiesen. Menschen, die um ihr Leben fürchten, müssen die gefährlichen Migrationsrouten zu Land und zu Wasser nehmen und werden weiterhin brutal an den Außengrenzen Europas zurückgewiesen.

 

*In einem neuen Absatz zu "Frauen in Konfliktsituationen" heißt es: "Es kann nicht ignoriert werden, dass Frauen allein aufgrund ihres Geschlechts besonders und in besonderer Weise von sexueller Gewalt in Konflikten betroffen sind". 
 

(c) photo Cyrille Voirol, positif.ch