Innere Grenzen: Nothilfecamps

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Ilustration de fils barbelés et de panneaux indiquant une sortie

Harsha Walia erforscht aktuelle Regierungsstrategien im Globalen Norden zur Aufrechterhaltung nationalstaatlicher Grenzen (2021). Sie beschreibt neben der stetigen Auslagerung (Externalisierung) von Grenzen auch interne Grenzziehungen. Grenzen sind nicht einfach Linien, die Länder voneinander trennen, sondern sie sind elastisch und vor allem für illegalisierte Personen jederzeit und überall spürbar. Nach Walia zeigen sich internalisierte Grenzen, wenn die betroffenen Personen innerhalb eines Staatsgebiets überwacht, kontrolliert und diszipliniert werden. Die Nothilfecamps der Schweiz sind ein perfektes Beispiel dafür. 

 

Grenzspektakel: die bedrohlichen «Anderen»

An der Medienkonferenz zur Eröffnung des ersten Nothilfecamps 2004 auf dem Jaunpass sagte die Berner Regierungsrätin Dora Andres, dass es im Camp Nahrungsmittel gebe, damit sich die „Abgewiesenen“ etwas kochen könnten, eine strenge Hausordnung, eine Rayon-Beschränkung, also ein klar definiertes Gebiet, in dem sie sich aufhalten dürften, und zwei Aufsichtspersonen, die rund um die Uhr für Ordnung sorgten. 

Sowohl gegenüber den Personen, die illegalisiert sind, als auch gegenüber der Bevölkerung markieren die Nothilfecamps innerstaatliche Grenzen: Die Camps werden oft an abgeschotteten Orten eröffnet, mit Zäunen umgeben, durch Kameras überwacht oder von Sicherheitsdiensten kontrolliert. Sie werden als Bedrohung inszeniert. Auch die Personen, die darin leben müssen, wirken dadurch bedrohlich. Sie werden eingesperrt und in ihrem Menschsein unsichtbar gemacht. Mit diesem Vorgehen wird die rassistische Praxis einer grösstmöglichen Differenz zwischen einem (schützenswerten) „Wir“ und einem (gefährlichen) „Anderen“ geschaffen. 

 

Die Logik der Camps

Die Zimmer in den Camps sind klein und eng und es gibt keine Privatsphäre, denn es leben mehrere Personen in den Zimmern und das Personal kann diese jederzeit kontrollieren. Die Toiletten werden von vielen benutzt, die Küchen sind nur karg eingerichtet und es fehlt oft an Tischen oder Stühlen, um sich darin aufzuhalten. «Alle haben viele Gedanken im Kopf, der eine möchte Musik hören, der andere schlafen, jemand anderes möchte telefonieren, alles im gleichen kleinen Zimmer. Das ist sehr schwierig und niemand kann gut schlafen. Im Camp kannst du nichts machen, nur warten, warten und viel denken.» So beschreibt es eine abgewiesene Geflüchtete an einer Demonstration gegen das herrschende Asylsystem. Das ist auch der Grund, weshalb es den Menschen auf Dauer psychisch schlechter geht, so die Analyse von Yusuf, der lange in einem Camp lebte: "Es ist ein Ort, an dem die Person gebrochen wird (...) Du isst, du wachst morgens auf, du gehst an den Schalter, um zu unterschreiben, du kommst zurück, du schläfst, danach schaust du fern, du isst, du schläfst wieder. Also das ist es, das Leben in der Nothilfe. Es ist kein Leben ... Es gibt Leute, die deshalb den Verstand verlieren“ 

 

Die Aufgabe der kantonalen Migrationsbehörden ist es, die Camps so einzurichten, dass das »festgelegte Setting dazu beiträgt, dass Ausreisepflichtige sich rasch darum bemühen, selbstständig die Schweiz zu verlassen.« So steht es im kantonalen Leistungsvertrag. Die Personen in den Camps Wissen darum, so zum Beispiel Mitra. Er hat bereits in mehreren Nothilfecamps gelebt, einmal auch inhaftiert aufgrund „illegalem“ Aufenthalt. Er erklärt:: „Die Behörden machen viel Druck. Wir müssen aufpassen, denn sie wollen uns kaputt machen. Sie wollen, dass wir sagen: ›Ich gehe weg von diesem Land.‹ Das ist ein psychologischer Krieg! Man muss stark sein.“ 

 

Die Mittel, welche in diesem „psychologischen Krieg“ eingesetzt werden, sind die dauernde Kontrolle und eine Reihe von „Erniedrigungen, Degradierungen, Demütigungen und Entwürdigungen“, so der Soziologe Goffman zu der Praxis in totalen Institutionen. totaler Institutionen. Totale Institutionen sind nach Goffman von der Gesellschaft abgegrenzte Orte, in dem die Aktivitäten des Lebens meist unfreiwillig unter einer Autorität stattfinden und nach deren Vorgaben und Interessen zu funktionieren haben. So wie die Nothilfecamps. Die Camps werden nicht von den Behörden selbst geführt, sondern von privaten und nicht-staatlichen Organisationen. Deren Aufgabe ist es, die abgewiesenen Geflüchteten so zu formen, dass sie sich der Logik der Camps unterwerfen. Hausordnungen und Privilegien- und Bestrafungssysteme sind zentrale Mittel in der Umsetzung dieses staatlichen Auftrags. Die Ordnungssysteme werden von den Camp-Mitarbeitenden durchgesetzt, überwacht und prominent gemacht. So wurde beispielsweise eine 9-seitige Hausordnung in einem Nothilfecamp an die Wand gepinnt. In der Hausordnung werden Nachtruhe, Bezug von Sachleistungen, Küchenbenutzungszeit, Besuchszeiten, manchmal die Aufenthaltsverbote ausserhalb des Camps und immer die Präsenzzeiten geregelt: „Die Präsenzkontrolle findet täglich von 22.30 bis 23 Uhr statt. Für jeden Tag der Abwesenheit wird Essen im Betrag von 6 Fr. abgezogen.“ 

Die Präsenzpflicht ist ein wichtiges Instrument für die Durchsetzung der Ordnung im Camp. Denn die überwachte Anwesenheitspflicht verhindert Mobilität, soziale Beziehungen und Vernetzung. Zudem zwingt sie zur Untätigkeit und verhindert eine autonome Alltagsgestaltung Sie wird auch genutzt, um die Nothilfebedürftigkeit der Personen immer wieder in Frage zu stellen, wie aus der Nothilfeweisung des Kantons Bern 2023 hervorgeht: "Die zwingende Anwesenheitspflicht bedeutet, dass sich die Nothilfebeziehenden an sieben Tagen die Woche im Rückkehrzentrum aufhalten und dort übernachten. Bei Personen, die nicht im Rückkehrzentrum übernachten, vermutet das Amt, dass sie (…) nicht bedürftig sind." 

Ein weiteres wichtiges Instrument zur Durchsetzung der Hausordnung sind (Reinigungs-)arbeiten, die im Camp erledigt werden müssen. Sie dauern meist nur ein bis zwei Stunden, denn die Personen in der Nothilfe unterliegen einem Arbeitsverbot und ihnen soll keine Tagesstruktur geboten werden. Um diese Arbeitsschichten herum wird ein Privilegien- und Sanktionssystem aufgebaut. Wer nicht mitarbeitet, erhält keine Privilegien (beispielsweise keine Aussicht auf ein Zimmer mit weniger Personen). Wer die Arbeiten nicht zur Zufriedenheit oder innerhalb eines vorgegebenen Zeitfenster verrichtet, erhält weniger Nothilfegeld. So werden die Personen in den Camps gegeneinander ausgespielt, was wiederum dazu führt, die überwachten Personen zu vereinzeln und der herrschenden Ordnung auszuliefern.

 

Abschaffung der Camps

Das Nothilfesystem immobilisiert die Menschen und unterwirft sie durch Kontrolle und Disziplinierung der Institution. Die Logik, die einerseits die Persönlichkeit der einzelnen Person angreift und andererseits Menschen zu bedrohlichen Anderen macht, gründet also auf Unterwerfung, Entwürdigung und Entmenschlichung. 

Deshalb ist eine abolitionistische politische Praxis sinnvoll. Das Ziel muss die Abschaffung – nicht die Reform – dieser Camps sein. Dies gelingt mit einer Perspektive der Bewegungsfreiheit für alle, wie Augustin es nach einer Polizeikontrolle gleich ausserhalb des Nothilfecamps, in dem er lebte, erläuterte:   » Und wenn du rausgehst, bist du illegal. Aber ich habe den Polizisten gesagt, dass es hier keine "Illegalen" gibt. Ich bin nicht illegal, ich bin legal. Weil ich Weltbürger bin!« 

 

Simone Marti ist Aktivistin im Migrant Solidarity Network und #abolishcamps. Dieser Artikel beruht auf ihrer Ethnografie «Innere Grenzziehungen. Das Nothilferegime im schweizerischen Asylsystem», 2023, Transcript.