Kriminalisierung der Migration: Kaum sichtbares Gewaltregime

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Photo d'Ursula Markus illustrant le bulletin de mars

Am 22. April 2024 wird das Berufungsverfahren gegen Homayoun Sabetera beginnen. Homayoun wurde in Thessaloniki festgenommen, weil er auf der Flucht aus dem Iran die griechisch-türkische Grenze überquert hatte. Er wurde wegen "Schmuggels" zu 18 Jahren Haft verurteilt. Der Beginn seines Prozesses ist für uns ein Anlass, den laufenden Kriminalisierungsprozess gegen Menschen, die Grenzen überqueren, um ihr Leben zu retten, erneut zu beleuchten. Wir veröffentlichen hier Auszüge aus dem Dossier unseres März-Bulletins.

 

Kaum sichtbares Gewaltregime: Tausende Migrant:innen in Gefängnissen 

 

«Wussten Sie, dass Personen, die des Bootsfahrens beschuldigt werden, mit 5 bis 30 Jahren Gefängnis rechnen müssen?» Mit dieser Frage beginnt ein Video vom «Captain Support» Netzwerk, einem Zusammenschluss von Initiativen, die sich gegen die Kriminalisiserung von Migration einsetzen. Und, wussten Sie es? Die Antwort lautet bei den meisten Leser:innen wohl «Nein». Und das obwohl die Entwicklung ein erschreckendes Ausmass hat. 

 

Kriminalisierung von Migrant:innen hat viele unterschiedliche Facetten und schwerwiegende Folgen. An den Aussengrenzen betrifft sie insbesondere die Menschen, die als Bootsfahrer:innen identifiziert werden. Oft übernehmen jene das Steuern der Boote, die entweder Erfahrung auf See haben oder zu wenig Geld für die Überfahrt aufbringen können. Immer wieder trifft es auch Flüchtende, die in Notsituationen teilweise lebensrettende Verantwortung übernehmen. Angeklagt werden die Beschuldigten wegen «Ermöglichen der illegalen Einreise» oder wegen dem Verursachen von einem Schiffsunglück, dann in Verbindung mit Gefährdung des Lebens, fahrlässiger Tötung und weiteren, schweren Straftatbeständen. Doch die Kriminalisierung betrifft nicht nur jene, die Boote oder Autos über Grenzen steuern. Hinzu kommt die eskalierende Entrechtung von sämtlichen Migrant:innen, beispielsweise in dem sie in geschlossene Zentren gesperrt werden, wie in Griechenland, oder auf Schiffen ausharren müssen wie in Grossbritannien, oder wie in der Schweiz, wo Tausende in Halbgefangenschaft in Bundesasylzentren auf ihre Asylentscheidung waren müssen. 

 

Die Kriminalisierung von Migration und gleichzeitige Abschaffung von sicheren und legalen Migrationswegen geht Hand in Hand. Auch Institutionen wie der Europarat oder das UN-Menschrechtsbüro OHCHR finde klare Worte gegen diese Entwicklung. 

 

In einem Bericht stellt der Europarat die Kriminalisierung von Migrant:innen in einen Zusammenhang mit der grundlegenden Diskriminierung von Ausländer:innen oder Menschen die dafür gehalten werden – und damit als Treiberin von «Fremdenfeindlichkeit und/oder Hassverbrechen». Die Mitgliedsstaaten, zu denen auch die Schweiz gehört, müssten «diese Trends umkehren und einen menschenrechtskonformen Ansatz» gegenüber Migration zurückkehren, fordert der Rat. Und auch das UN-Menschenrechtsbüro OHCHR kritisiert die Entwicklung und hält fest, dass die Kriminalisierung von Migration «zu einer Reihe von Menschenrechtsverletzungen führt» und falsche und fremdenfeindliche Narrative verstärke. Migrant:innen werden zu Kriminellen gemacht und Migration selbst als Bedrohung dargestellt.

 

Die Entwicklung zeugt davon, wie sehr sich Europa von einem menschenrechtsbasierten Politik- und Gesellschaftsverständnis verabschiedet – eine Entwicklung, die sich in der GEAS-Reform manifestiert (siehe Bulletin Seite 3). 

 

Tausende inhaftiert – teilweise hunderte Jahre Gefängnis

Das Strafmass, dass jenen blüht, die als Fahrer:innen identifiziert werden, ist absurd: In Griechenland waren es vor etwa einem Jahr 2154 Menschen, die wegen Schmuggelvorwürfen im Gefängnis sassen, wie ein Bericht der Nichtregierungsorganisation borderline-europe berechnete. Dies während die durchschnittliche Verhandlungsdauer 37 Minuten betrug und in einer durchschnittlichen Strafe von 46 Jahren und einer Busse von 332209 Euro mündete. Und auch in Italien wurden in den letzten acht Jahren über 2200 Personen wegen Bootfahren eingesperrt, wie der Bericht «From Sea To Prison» aufzeigte. Wer sich das vor Augen führt merkt, das hier ein Krieg gegen Migrant:innen geführt wird - unter dem Deckmantel des liberalen Rechtsstaates. Mit der Drohkulisse von langjährigen Gefängnisstrafen als Waffen.