Medizintourismus? Welcher Medizintourismus?

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Fluchtkleider

Die Motion 24.4292, mit der FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro «Asylgesuchen, die nur aufgrund einer medizinischen Behandlung in der Schweiz eingereicht werden, ein Ende setzen» möchte, stützt sich auf zwei Argumente. Das erste greift den Mythos des «unechten Flüchtlings» auf, der keinen Schutz durch die Schweiz benötige und nur ins Land komme, um das System auszunutzen – in diesem Fall das Gesundheitssystem. Das zweite Argument besteht darin, einen Einzelfall zu verallgemeinern, der Schlagzeilen gemacht hat. Dabei geht es um Georgier, die angeblich zur Behandlung in die Schweiz gekommen sind – einem Fall, «bei dem es um teilweise exorbitante Summen ging».

 

Analyse und Kommentar von Sophie Malka von asile.ch.

 

Der Mythos des «unechten Flüchtlings»

Jacqueline de Quattro behauptet: «Zahlreiche Staatsangehörige aus Ländern, die keinen Anspruch auf Asyl begründen, kommen in die Schweiz, um sich hier auf Kosten der Allgemeinheit oftmals teuren Behandlungen zu unterziehen.» 

 

Man könnte meinen, Frau de Quattro benötige Nachhilfe im internationalen Recht. Sie sollte daran erinnert werden, dass es Länder, «die keinen Anspruch auf Asyl begründen», nicht gibt. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte sieht vor, dass «jeder Mensch das Recht [hat], in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen» (Art. 14). 

 

Frau de Quattro präzisiert im Folgenden ihre Gedanken und spricht von «Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten, die Asyl beantragen» oder von Asylsuchenden «ohne echte Asylgründe». Auch hier erscheint es trivial, daran zu erinnern, dass eine Person, die keine Asylgründe hat, einen ablehnenden Entscheid erhält. Und dass ein Gesundheitsproblem nach Schweizer Recht kein Asylgrund ist.

                  

Verallgemeinerung eines Einzelfalls

In ihrer Motion spricht de Quattro vom «Phänomen der Asylgesuche, die nur gestellt werden, um von einer medizinischen Behandlung in der Schweiz zu profitieren». Dabei stützt sie sich insbesondere auf einen «Fall von Personen aus Georgien, bei dem es um teilweise exorbitante Summen ging. Sie stellten ein von vornherein aussichtsloses Asylgesuch. Während dieses geprüft wurde, liessen sie sich behandeln. Danach kehrten sie in ihr Herkunftsland zurück.» 

 

Handelt es sich hierbei tatsächlich um ein verbreitetes «Phänomen»? Ende 2024 berichteten die Medien über sieben Personen aus Georgien, die im CHUV in Lausanne auf eine Transplantation warteten und eine F-Bewilligung hatten. Zwei von ihnen waren minderjährig (siehe den Beitrag von RTS vom 24. Oktober 2024). Das Spital hatte erklärt, dass diese Zahl im Vergleich zu anderen Jahren aussergewöhnlich hoch sei. Das hinderte die FDP jedoch nicht daran, auf kantonaler und Bundesebene in die Offensive zu gehen. Auch wenn diese wenigen Fälle real und die Fragen berechtigt sind – selbst wenn wir nicht alle Details kennen –, schürt Frau de Quattro mit ihrer Verallgemeinerung und ihrer Verunglimpfung von Asylsuchenden und sogar von Inhaber:innen einer F-Bewilligung Vorurteile – indem sie die Begriffe «Missbrauch» und «ausnutzen» selbst missbraucht.

 

Die F-Bewilligung in rein medizinische Fällen

«In bestimmten Fällen stellt der Gesundheitszustand der betroffenen Personen ein Hindernis für die Rückführung dar.» Damit verweist Frau de Quattro auf eine weitere Rechtsdimension, die mit der Gewährung einer vorläufigen Aufnahme zusammenhängt: Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde, deren Rückführung jedoch unzumutbar, unzulässig oder unmöglich ist, haben Anspruch auf Schutz in Form einer F-Bewilligung.

 

Im Jahr 2024 erhielten 90 Personen aus rein medizinischen Gründen in der Schweiz eine vorläufige Aufnahme (Ausweis F). Dies betrifft nur schwerwiegende medizinische Fälle und der F-Status wird auch nur dann gewährt, wenn eine medizinische Behandlung im Herkunfts- oder Heimatland nicht verfügbar ist. Entgegen den Vorwürfen des Medizintourismus sei daran erinnert, dass das Schweizer Recht bereits vorsieht, dass der «alleinige Umstand, dass im Heimat- oder Herkunftsstaat keine dem schweizerischen Standard entsprechende medizinische Behandlung möglich ist, […] nicht zur Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs» führt. (Handbuch Asyl und Rückkehr des SEM, Artikel E3, 3.2.2.1, Seite 16). Mehr Informationen dazu finden Sie in dieser Analyse von Elodie Feijoo von asile.ch.

 

Präzisierung zu den F-Bewilligungen. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass die Mehrheit der Personen, denen die Schweiz Schutz in Form einer vorläufigen Aufnahme gewährt, aus Kriegs- oder Konfliktländern stammt und dass die Schweiz mit der Durchführung dieser Rückführungen ihre internationalen Verpflichtungen verletzen würde. In der Europäischen Union würden dieselben Fälle subsidiären Schutz erhalten.

 

Zahnärztliche und kieferorthopädische Kosten zu Lasten des Steuerzahlers?

Laut Frau de Quattro «nutzen viele Wirtschaftsmigrantinnen und -migranten, die Asyl beantragen, die Gelegenheit, um sich zahnärztlich oder sogar kieferorthopädisch behandeln zu lassen.»

 

Immer noch keine Zahlen, stattdessen blosse Verdächtigungen: Diesbezüglich verweisen wir auf eine aktuelle Untersuchung des Online-Portals Watson, das nicht nur Personen im Asylverfahren berücksichtigte, sondern auch Personen mit vorläufiger Aufnahme oder S-Status. Der Titel der Untersuchung spricht für sich: «Warum zieht die Schweiz Flüchtlingen die Zähne? » Darin wird aufgedeckt, dass die Betroffenen als zahnärztliche oder kieferorthopädische Behandlung die Wahl zwischen Ibuprofen oder Zahnziehen haben. Es sei fraglich, ob Sozialhilfeempfänger:innen in der Schweiz mit einer solchen Behandlung zufrieden wären. Tatsächlich zeigt die Untersuchung, dass diese Praxis langfristig für die Gemeinschaft teurer werden könnte, angesichts der medizinischen Folgen dieser Behandlungen, die sich entweder als unzureichend oder als invalidisierend erweisen. Auch hier sei daran erinnert, dass Personen mit einer F-Bewilligung dazu verpflichtet sind, sich dauerhaft in der Schweiz aufzuhalten, da es sich tatsächlich um einen Schutz handelt. In diesem Zusammenhang erscheint es uns sogar sinnvoll, die Forderung der Zahnärzt:innen zu unterstützen, Inhabern einer  F-Bewilligung nach drei Jahren Aufenthalt in der Schweiz denselben Zugang zu Leistungen wie Flüchtlingen zu gewähren.

 

Frau de Quattro beim Wort nehmen und eine Systemänderung vorschlagen?

Wir könnten Frau de Quattro sogar beim Wort nehmen, wenn sie sich als Verfechterin der «humanitären Tradition» präsentiert: «Menschen, die Schutz in der Schweiz benötigen und ein entsprechendes Asylgesuch stellen, müssen Zugang zu denselben Gesundheitsleistungen wie in der Schweiz wohnhafte Personen erhalten. Nicht aber Asylsuchende ohne echte Asylgründe. Dies entspricht unserer humanitären Tradition.»

 

Da die vorläufige Aufnahme als internationaler Schutz aufgrund der Gefahr von Folter oder Lebensgefahr im Falle einer Rückführung betrachtet wird (die Schweiz darf eine solche Rückführung nicht vornehmen, ohne ihre internationalen Verpflichtungen zu verletzen), kann man von Frau de Quattro zu Recht verlangen, dass sie sich dafür einsetzt, dass Inhaber einer F-Bewilligung und Flüchtlinge aus der Ukraine (S-Status) denselben Zugang zu Gesundheitsleistungen erhalten wie andere Personen mit Wohnsitz in der Schweiz. Daher sollte sie auch die Forderung der Zahnärzt:innen unterstützen.

 

Zugang zu medizinischer Versorgung für Asylsuchende

Wer in der Schweiz Asyl beantragt, hat Anspruch auf die durch das KVG garantierte medizinische Grundversorgung. Nach dem Verlassen eines Bundesasylzentrums wird die Person einem Kanton zugewiesen, der sie bei einer Versicherung anmeldet, wenn sie nicht über die Mittel verfügt, um ihre Prämien selbst zu bezahlen. Sie kann weder die Krankenkasse noch das Versicherungsmodell oder die Höhe der Franchise wählen. Artikel 82a des Asylgesetzes erlaubt es den Kantonen, die Wahl und das Modell des Versicherers einzuschränken und die Leistungserbringer für Asylsuchende und schutzbedürftige Personen zu begrenzen. Dies tun sie, um Zugang zu den günstigsten Lösungen zu erhalten. In einigen Kantonen muss man zunächst seinen Sozialarbeiter:in oder eine Krankenschwester aufsuchen, bevor man eine Ärzt:in konsultieren kann. 

 

Wer profitiert von wem? Eine populistische Motion

Angesichts der Fakten kann man diese Motion und die zahlreichen Beiträge, die Frau de Quattro zu diesem Thema veröffentlicht hat, nur als populistisch bezeichnen. Die Gesundheitskosten sind für arme Menschen und für Menschen mit geringem Einkommen in der Schweiz ein grosses Problem, da sie das Haushaltsbudget stark belasten. Es ist heuchlerisch, sich als Beschützerin «der Steuerzahler:innen» zu gerieren, während sich die eigene Partei, die in den Verwaltungsräten der Versicherer überrepräsentiert ist, systematisch gegen das Prinzip der einkommensabhängigen Krankenkassenprämien wehrt. Sich auf einen Einzelfall zu stützen, um über ein Phänomen zu sprechen und Misstrauen gegenüber einer Mehrheit der Asylsuchenden zu schüren, ist eine Form der Stigmatisierung. Und wenn das Ziel darin besteht, diskriminierende Massnahmen einzuführen, ist diese Methode verwerflich.

 

Leider werden die Vorurteile und Verallgemeinerungen, die in solchen parlamentarischen Vorstössen verbreitet werden, im Parlament ausgiebig thematisiert und dann in den Medien aufgegriffen. Die Tatsache, dass der Bundesrat vorschlägt, die Motion anzunehmen, ist ein demokratischer Rückschritt, da er damit falschen Informationen Glaubwürdigkeit verleiht.

 

SVP & FDP Hand in Hand?

Abschliessend sei daran erinnert, dass diese Motion Teil einer grösseren und ausdauernden Kampagne der FDP (und der SVP) ist, das Asylrecht unter dem Vorwand der Gesundheitskosten abzubauen. Man darf gespannt sein, wer mit seinen Unwahrheiten am weitesten geht: Am 2. September 2025 hielt die SVP eine Pressekonferenz zu den Gesundheitskosten ab, bei der sie irreführende Zahlen präsentierte, die einer Faktenprüfung von asile.ch nicht standhielt.