Selektion an den Aussengrenzen: Screening, Grenzverfahren, Ausschaffung

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CCAC Samos (© Nik Oiko, 2021)

Mit der Asylverfahrensverordnung (AVV) gibt es erstmals ein EU-Gesetz, das den konkreten Ablauf von Asylverfahren einheitlich regelt und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbar ist. Die EU weicht damit von ihrer bisherigen Praxis ab, das Asylrecht vor allem über Richtlinien zu gestalten, die zwar Mindeststandards festlegen, aber stets noch in nationalen Gesetzen ausbuchstabiert werden müssen. Flankiert wird die AVV von zwei weiteren, neuen Verordnungen: der Screening- und der Rückführungsverordnung. Zusammen etablieren sie einen Selektionsprozess in drei Schritten, der individuelle Fluchtgründe ignoriert und möglichst viele Geflüchtete aus dem Asylprozess auszuschliessen erlaubt.


Screening
Erstmals wird im EU-Recht ein sogenanntes Screening festgeschrieben, das Geflüchtete schon beim ersten Kontakt mit den Behörden vollständig durchleuchtet und zwischen aussichtsreichen und aussichtslosen Fällen unterscheidet. Verpflichtende Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitschecks sollen die Herkunft der Geflüchteten bestimmen, ihre Fluchtrouten rekonstruieren, vulnerable Personen identifizieren sowie durch die Speicherung biometrischer Merkmale in der erweiterten EURODAC-Datenbank und durch Abfragen in Migrations- und Polizeidatenbanken mögliche Sicherheitsrisiken aufspüren.


Allein auf Basis dieser Überprüfungen – und nicht anhand der Fluchtgründe – wird dann entschieden, ob Asylsuchende ein reguläres Verfahren oder das beschleunigte Grenzverfahren durchlaufen, oder ob die Zulässigkeit ihrer Gesuche abgelehnt wird. Ebenso wie die Grenzverfahren findet das Screening unter einer «Fiktion der Nicht-Einreise» statt. Geflüchtete gelten also als nicht eingereist, obwohl sie die EU-Aussengrenzen bereits überschritten haben. 


Der Sinn hinter dieser rechtlichen Akrobatik erschliesst sich, wenn man das Screening als nachholende Grenzkontrolle für all die Geflüchteten auffasst, die die EU-Aussengrenzen undokumentiert überquert haben – sei es über die grüne Grenze oder im Zuge von Seenot-Rettungen. Da sich solche Grenzübertritte ohne Pushbacks nicht verhindern lassen, heisst das neue Motto Internierung. Letztlich geht es darum, Wissen und Kontrolle über die Fluchtbewegungen zurückzuerlangen, die 2015 verloren gegangen sind.


Grenzverfahren
Die neuen, beschleunigten Grenzverfahren finden in geschlossenen Lagern entlang der EU-Aussengrenze statt. Sie sind für alle Asylsuchenden verpflichtend, die entweder aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von 20% oder weniger kommen, während des Screenings getäuscht oder die Feststellung ihrer Identität mutwillig verhindert haben, gemäss Screening ein Sicherheitsrisiko darstellen oder in einen sicheren Drittstaat überstellt werden können. Die Verfahren sind auf 12 Wochen befristet und damit noch acht Wochen kürzer als die beschleunigten Verfahren in der Schweiz. Selbst Familien mit Kindern werden nicht von ihnen ausgenommen.

 

Personen, die bereits ausserhalb der EU einen Schutzstatus erhalten haben oder einen starken Bezug zu einem sicheren Drittstaat haben, können ganz aus den Grenzverfahren ausgeschlossen werden. Ihre Gesuche werden für unzulässig erklärt und inhaltlich gar nicht erst geprüft. 


Die Absicht dahinter ist klar: weil die EU ihre Grenzen nicht einfach schliessen kann und alle bisherigen Versuche, Asylverfahren in Drittstaaten auszulagern, gescheitert sind, verschiebt die EU die Verfahren ganz an die Ränder des Schengenraums und setzt gleichzeitig alles daran, Geflüchtete so schnell wie möglich wieder loszuwerden.


Ausschaffung
Das erklärte Ziel von Screening und Grenzverfahren unter Haftbedingungen ist es, möglichst vielen Geflüchteten den Zugang zum Asylsystem zu verwehren und sie gleichzeitig für eine schnelle Ausschaffung verfügbar zu halten. Da im Grenzverfahren abgewiesene Asylsuchende nach wie vor als nicht in den Schengenraum eingereist gelten, bedurfte es einer neuen Rückführungsverordnung, die von der ansonsten geltenden Rückführungsrichtlinie abweicht und diese Geflüchteten rechtlich schlechter stellt. Nach einem negativen Entscheid im Grenzverfahren können sie erneut für 12 Wochen festgehalten werden, in denen ihre Ausschaffung vorbereitet und vollzogen werden soll. Ruft ein Mitgliedstaat eine «Migrationskrise» aus, erhöht sich diese Frist gar auf 20 Wochen.

 

In Kürze: Screening-Verordnung
Die Screening-Verordnung führt verpflichtende Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheitschecks für undokumentiert eingereiste oder innerhalb des Schengenraums aufgegriffene Personen ein. Auf Basis dieser Überprüfung wird entschieden, welche Asylverfahren sie durchlaufen müssen. Ebenso wie die Grenzverfahren findet das Screening unter der «Fiktion der Nicht-Einreise» statt und muss sowohl an den Aussengrenzen als auch im Territorium der Mitgliedstaaten durchgeführt werden. Da die Screening-Verordnung als Schengen-Besitzstand gilt, muss sie auch von der Schweiz übernommen werden.

 

Dieser Text erschien zuerst im Sosf-Bulletin Nr. 2/2024.

 

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