Massenabschiebungen von Kroatien nach Bosnien und Herzegowina

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Photo by Arpad Kurucz/Anadolu Agency

Kroatien ist seit dem 1. Januar 2023 offiziell Teil des Schengen-Raums. Infolgedessen wurden 742 Polizeibeamte aus den Einheiten an den ehemaligen Schengen-Grenzen (Slowenien und Ungarn) in mobile Einheiten umverteilt. Diese fangen nun auf dem gesamten kroatischen Staatsgebiet Personen ab, halten sie fest, sperren sie ein und schieben sie dann nach Bosnien und Herzegowina ab. Den vom Border Monitoring Network gesammelten Erzählungen und deren Analyse zufolge handelt es sich dabei um illegale Praktiken, die gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) verstoßen. 

Abgeschobene Personen berichten: Die kroatische Polizei nimmt Personen fest und sperrt sie in unterirdische Zellen. Dort müssen sie stundenlang ohne Wasser und Nahrung ausharren. Dann stellt ihnen die kroatische Polizei eine Abschiebungsanordnung nach Bosnien und Herzegowina aus. Die Betroffenen werden gezwungen, ein Dokument zu unterschreiben, das sie nicht verstehen, und haben keine Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Diese Praxis ist doppelt illegal, sowohl gemäß Artikel 196 des kroatischen Ausländergesetzes, der besagt, dass eine Übersetzung garantiert werden muss. Aber auch gemäß internationalen Verträgen, wie zum Beispiel der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in Art. 13 das Recht auf einen wirksamen Rechtseistand garantiert. Die Entwicklungen sind ein weiterer Beweis dafür, dass in Kroatien die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit für Migrant:innen nicht eingehalten werden. Als Höhepunkt des Zynismus wurde einigen Personen sogar eine Rechnung über mehrere hundert Euro für ihren "Aufenthalt" in den kroatischen Gefängnissen präsentiert.

 

Illegale Rückübernahmeabkommen 

Diese bilateralen Rückübernahmepraktiken sind nicht neu. Sie wurden bereits von mehreren nationalen Gerichten in der Europäischen Union, in Italien, Slowenien und Österreich angeprangert und für illegal erklärt. Der wohl emblematischste Fall ist der eines Mannes, der in einer Kettenabschiebung illegal von Italien über Slowenien und Kroatien nach Bosnien zurückgeschickt wurde. Ein klarer Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung.

 

Besonders beunruhigend ist nun, dass diese bilateralen Rückübernahmen in großer Zahl und auf sehr undurchsichtige Weise erfolgen: Mustafa Ruznic, der Premierminister des Kantons Una-Sana, in den die Menschen zurückgeschickt werden, wusste nichts davon. Er bat das Sicherheitsministerium, den Dienst für Ausländerangelegenheiten und den Ministerrat von Bosnien und Herzegowina um Informationen über diese Abschiebungen - ohne Erfolg. Er rechnet jedoch damit, dass in den nächsten Tagen mehrere hundert Migrant:innen abgeschoben werden.

 

Nach der Übergabe an die bosnischen Behörden werden die Abgeschobenen in das Flüchtlingslager Lipa gebracht. Diese brannte 2019 ab und ist nun mit einem vergitterten Haftbereich mit 15 bis 20 Containern ausgestattet. Der soll in Zukunft noch erweitert werden. Bei einem Besuch im Kanton Una-Sana am Mittwoch warnte der bosnische Minister für Flüchtlinge und Vertriebene, Sevlid Hurtic, vor dem Bau dieser Einheit im Lager Lipa, von dem niemand etwas wisse: "Ich werde mich informieren müssen, denn was ich im Lipa-Lager gesehen habe, entspricht sicherlich nicht den Menschenrechten und dem, was die Vertreter der Europäischen Union von Anfang an von uns verlangt haben. Jemand muss das alles erklären", sagte Hurtic. 

 

Diese eingegitterte Zone soll "falsche Asylsuchende bis zu ihrer Rückkehr in ihr Herkunftsland festhalten", so das Memorandum of Understanding zwischen der IOM und Bosnien und Herzegowina, das im November 2022 unterzeichnet wurde. Diese Vereinbarung sieht ein großes Budget vor, das der "Lösung des Problems der irregulären Migration" und der "Unterdrückung von Schleusernetzwerken und organisierter Kriminalität" gewidmet ist.  Die Zahlen sind schwindelerregend: Nach den 170 Millionen Euro, die in den letzten beiden Jahren investiert wurden, sollen bis 2024 weitere 350 Millionen Euro bereitgestellt werden. Und wofür wird dieses Geld verwendet? Insbesondere für den Ausbau der Grenzüberwachung: Drohnen, Wärmebildkameras, Videoüberwachungssysteme, Fahrzeuge und Kommunikationssysteme. Die IOM erhielt 500'000 Euro für ein Pilotprojekt zur Förderung der freiwilligen und erzwungenen Rückkehr. Schließlich stammen die neuen Haftcontainer im Lager bei Lipa aus dem Paket in Höhe von einer halben Million, das darauf abzielt, "die Region unter Kontrolle zu halten". In Zukunft sollen auch in anderen Ländern der Region Haftlager dieser Art errichtet werden.

 

Unter dem Deckmantel der Bekämpfung von Schleusern und organisierter Kriminalität findet nichts weniger als eine weitere Etappe der Externalisierung des Asylwesens statt. Am Steuer sitzen die Europäische Union und die IOM. Wenn es um die Externalisierung der Grenzen und den Kampf gegen die Migration geht, ist in der Regel auch Frontex nicht weit weg: Derzeit laufen Verhandlungen über die Präsenz der EU-Grenzschutzagentur an den bosnischen Grenzen.

 

Welche Verantwortung trägt die Schweiz?

Und auch die Schweiz spielt auch eine führende Rolle in der Politik der Migrationsabwehr: Sie hat in Bosnien zwischen 2017 und 2019 1,2 Millionen Schweizer Franken für die Entwicklung eines Migrant Information System (MIS) bereitgestellt, das die Interoperabilität mit anderen Systemen zur Erhebung und Nutzung persönlicher Daten von Grenzübertritten in Bosnien und anderswo anstrebt. Die Schweiz trägt seit Jahren zur weiteren Auslagerung des Migrationsregimes bei.  

 

Bei unserer Reise nach Bosnien im November letzten Jahres erfuhren wir aus erster Hand, wie die IOM mit finanzieller Komplizenschaft der Schweiz zur Auslagerung der Migrationsabwehr beiträgt. Während einer Tour zur Verteilung von Lebensmitteln in verlassenen Gebäuden, die von Menschen auf der Flucht genutzt wurden, hatten wir diese leer vorgefunden. Später wurde uns berichtet, was passiert war: Kleintransporter holten die Bewohner aus den Häuser und brachten sie in das Lager nach Lipa. Der offizielle Grund: Die Menschen sollten von der IOM betreut werden. Was tatsächlich geschah: Um das Lager betreten zu dürfen, mussten sich alle Personen registrieren und ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Die meisten Personen unterzogen sich dieser Übung, bevor sie Lipa so schnell wie möglich wieder verließen. Am selben Abend waren sie nach kilometerlangen Fußmärschen wieder zurück in den Häusern, aus denen sie geholt wurden Sie kehrten in die verlassenen Gebäude zurück, weil diese sich an strategischen Punkten nahe der Grenze zu Kroatien befinden. Die Menschen wollen in die Europäische Union und nicht in die Flüchtlingslager in Bosnien und Herzegowina. All jenen, denen Fingerabdrücke registriert wurden, droht mit der neuen Rückführungspraxis die Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina. Dessen Asylsystem ist eine Farce: Die jüngsten Berichte von Amnesty International gehen davon aus, dass es Bosnien und Herzegowina nicht gelingt, ein effektives Asylrecht zu gewährleisten. Laut Aktivist:innen vor Ort erhielten in den letzten 10 Jahren lediglich 2 Personen den Flüchtlingsstatus gewährt.  

 

Welches Interesse hat Bosnien und Herzegowina daran, abgeschobene Asylsuchende aufzunehmen? Laut dem Journalisten Mathias Monroy folgt das Land den Richtlinien und dem Druck  der Europäischen Union. Das heißt konkret : Rückübernahmeabkommen mit 16 EU-Ländern und die Umsetzung von 100 neuen Maßnahmen, die sich aus der "Migrations- und Asylstrategie" ergeben, die Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Zusammenarbeit in einem gemeinsamen Rückübernahmeausschuss verabschiedet hat. Als Belohnung erhält Land den Status eines Kandidaten für den Beitritt zur Europäischen Union. Im Klartext: Um in den Genuss der wirtschaftlichen Vorteile einer EU-Mitgliedschaft zu kommen, müssen die ärmsten Länder zunächst brav dem Outsourcing des Asylrechts aus Europa Folge leisten und gehorchen . 

 

Grundrechte garantieren - Abschiebungen stoppen

All dies macht die Praxis der Massenabschiebungen von Kroatien nach für die Grundrechte von Menschen im Exil besorgniserregend und gefährlich. Am 6. April 2023 haben journalistischen Teams von Lighthouse Reports zusätzlich schriftliche Beweise für systematische Pushbacks aus dem Landesinneren enthüllt.

 

Mit der Rückführung von in der Schweiz geflüchteten Personen nach Kroatien geht der Bund wiederholt  und bewusst das Risiko ein, gegen das Non-Refoulement-Prinzip zu verstossen. Die Tatsache, dass diese Abschiebungen zahlenmässig massiv sind und dass mobile Einheiten im ganzen Land eingesetzt werden, um Migrant:innen abzufangen, stellt einmal mehr die bereits brüchige Argumentation des SEM in Frage, wonach es "keinen Zusammenhang zwischen den Pushbacks an den Grenzen und dem, was im Zentrum des Landes passiert" gebe. Die weitreichenden Ausschaffungsaktionen, gelten als klare Verletzung des Asylrechts und internationaler Verträge. Sie sind nichts anderes als institutionalisierte Pushbacks. Deshalb gilt mehr denn je: Die Dublin-Rückführungen nach Kroatien müssen sofort gestoppt werden!

 

Solidarité sans frontières

Foto: Arpad Kurucz/Anadolu Agency